Tageskarte:Zum Jahresende gibt es immer wieder die Frage nach den größten Chancen und Herausforderungen für Hoteliers und Gastronomen. Da steht die Mitarbeiterknappheit wohl mit ganz oben auf der Liste. Was kommt da auf die Branche zu?
Julia Thombansen: Also ehrlich - da muss ich mich erst einmal beruhigen. Denn wenn ich höre, was manche Entscheider hier von sich geben, dann könnte ich platzen. Da werdenWeiterbildungeneinfach mal so abgesagt – trotz Kommentar: „Genau das brauchen wir!“ Dann kommt das „Aber...!“ mit solchen Begründungen:
- "Dafür können wir keine Mitarbeiter abziehen."
- "Wir haben keine Zeit für System- oderMitarbeiterentwicklung."
- "Wir sind so knapp besetzt."
- "Das operative Geschäft frisst uns auf."
- "Führungskräften können wir nicht mit solchen Maßnahmen kommen, die müssen arbeiten."
- "Und wenn wir in die investieren und die dann gehen, dann war ja alles umsonst!"
Haben diese Führungsverantwortlichen erkannt, dass wir gerade an einer echten Weggabelung stehen? Und wenn ich mir so zuhöre, gilt auch für mich: Aufhören mit Lamentieren, durchatmen, neu denken!
Tageskarte: Viele Betriebe stecken eben nicht nur im Tagesgeschäft fest, sondern auch in alten Mustern. Wie kommt man da raus?
Christine Possler: Die Herausforderung Nr. 1 ist, Konzepte so systemisch und ganzheitlich aufzubauen, dass sie zu den Menschen passen, die hier arbeiten, dass Mitarbeiter alles Wesentliche"on the Job"erlernen können und dass sie selbst Spaß daran haben. Das ist und bleibt einPeople-Business!
Natürlich stecken viele Herausforderungen darin, unser Geschäft neu zu denken. Und doch sehe ich die allgegenwärtige Mitarbeiterknappheit als eine echte Chance.
Tageskarte: Wieso eine Chance? Wir hören doch überall die Klage, dass Mitarbeiter mit und ohne Ausbildung heute nicht mehr mitbringen, was sie früher konnten, und überhaupt alles viel schwieriger ist. Und jetzt sind diese nicht mehr so leicht zu führenden Leute auch noch knapp? Wo ist denn da die Chance?
Julia Thombansen: Ja, Chance! Weil sich jeder Hotelier und Gastronom überlegen muss, wie er sein Konzept so aufbaut, dass es Gästen UND Mitarbeitern „schmeckt“ und auch noch Profit abwirft. Er muss nachdenken, mit welcher Technik er seine Mitarbeiter unterstützt, was er vereinfachen kann und wie er als Arbeitgeber so attraktiv ist, dass Mitarbeiter nur zu ihm kommen möchten. Diese Rahmenbedingungen sind echteImpuls- und Innovationstreiber.
Tageskarte: Das würde aber in vielen Betrieben, ob familiengeführt oder Kette, ein radikales Umdenken erfordern.
Julia Thombansen: Zugegeben, das Geschäft wird dadurch deutlich komplexer und muss gleichzeitig einfach wirken. Auch ein Anspruch! Und ich bin mir sicher: Darin steckt eine Chance, richtig tolle Systeme aufzubauen. Doch erst einmal muss das Jammern aufhören!
Tageskarte: O.k., das Klagelied der Branche mal beiseitegelassen: Theoretisch klingt das ja alles immer wohlfeil. Aber was muss der Unternehmen denn konkret machen?
Christine Possler:Auch für die Gastro-Branche gilt: Packt es an! Begreift die Situation als Aussicht auf neue und neuartige Erfolge und schaut denen auf die Finger, die es heute schon anders machen. Da gibt es welche, bei denen die Bewerber "Schlange stehen", die ein gutes Image haben und die gute und souveräne Mit-Macher magnetisch anziehen.
In manche "Läden" kommst Du als Gast hinein und merkst sofort: Hier passt die Stimmung, die Leute arbeiten gerne zusammen und gerne hier. Diese Betreiber machen etwas richtig! Die kriegen den Mix aus erkennbar sinnvoller Arbeit, Spaß, gerechter Bezahlung und angemessener Stundenzahl hin.
Julia Thombansen: Das passt doch auch gut zu unseren Erlebnissen, oder? Zu all dem, was wir in den letzten Wochen in Südeuropa, genauer in Lissabon, Madrid und Bologna erfahren haben. Den Unterschied im Vergleich zu Deutschland merkst Du sofort. Die waren locker, liebenswürdig, schnell und individuell in Kommunikation und Service. Da kannst Du erleben, was machbar ist.
Tageskarte: OK, verstanden. Bleibt aber die Frage, wie wir das im Gäste-Business erreichen können? Oft geht das operative Geschäft vor, auch wenn das kurzsichtig gedacht ist. Zudem steht in Deutschland nicht das gleiche Potenzial an jungen Arbeitskräften zur Verfügung wie in Südeuropa, wo 34 Prozent in Spanien und 19 Prozent in Portugal arbeitslos sind.
Julia Thombansen: Richtig. Wesentlich ist: Dienstleister erfinden sich neu und gehen neue Wege. Denn immer effizienter im alten SystemQualitätund Produktivität zu steigern und dafür Kosten zu sparen, heißt häufig:
Arbeiten bis zum Anschlag und dann voll vor die Wand fahren.
Besser ist, sich die Lage genau anzuschauen und gemeinsam neue Ansätze zu entwickeln, ohne fundamentalistisch am Alten festzuhalten oder es völlig über den Haufen zu werfen.
Tageskarte: Und das bedeutet dann konkret?
Christine Possler: Wir brauchen realistische Wege, die gleichzeitig mutig sind. Es gibt z.B. schon gute technische Lösungen auf dem Markt, die unterstützen und die Verantwortliche für sich anpassen können – in Buchungs-, Bestell-, Kassen-, Produktions-, HACCP-Systemen.... Dann haben Mitarbeiter wieder mehr Zeit für echteServicebegegnungenmit ihren Gästen! Denn hier sind sie nicht ersetzbar, und das ist bei aller Systematisierung ja auch das Spannende an der Arbeit.
Julia Thombansen: Den Schlüssel bilden dabei für mich weiterhin die Führungskräfte, die Betriebs-, Abteilungs- und Teamleitungen. Für sie gilt ganz klar: Wenn Veränderung bei Euch gelingen soll, dann stellt bitte den Menschen - Gast und Mitarbeiter – ins Zentrum! Und unterstützt sie mit Anstößen über die Technik, z.B. in Leistungsinformationen, Zusatzverkauf, Anbieten von Aktionen etc.
Christine Possler: Ich fasse mal zusammen: Neue Wege gehen, wobei Vieles ist ja gar nicht so neu sein muss, aber Konsequenz benötigt, also ungewöhnliche Ideen entwickeln, technische Unterstützung nutzen, erfolgreiche Konzepte anschauen, Führungskräfte und Mitarbeiter spielerisch und arbeitsplatznah voran bringen… alles auf Gäste und Mitarbeiter fokussiert.
Und das zeitnah und schrittweise probieren und immer wieder angleichen. Keine lang geplante allumfassende Musterlösung, sondern handfest und neugierig mit kleinen Maßnahmen nach vorne gehen. Übersetzt ist dasagiles Management, und das braucht einepositive Haltung zuVeränderungen.
Tageskarte: Klingt super. Was wäre dann der erste Schritt in die richtige Richtung?
Julia Thombansen: Die Frage ist in der Tat, wie ein Betrieb aufgestellt sein muss, um so zu arbeiten. Da braucht es ja fast so etwas wie operative Entwicklungs-Führungskräfte, deren Hauptjob die ziel- und mitarbeitergerechte Entfaltung jedes einzelnen ist und das möglichstagil. Sorry für das Buzzword nochmal, aber es trifft die schwungvolle Grundeinstellung undServicehaltung, die wir dafür brauchen.
Tageskarte: Sie meinen so etwas wie einen Feelgood-Manager?
JT: Nee, der gefällt mir nicht. Da kontern die Operativen sofort: „Lass die mal ihr Wohlfühlprogramm machen, wir machen hier die 'richtige' Arbeit!".
Christine Possler: Unterstützungs-Manager oderEntwicklungs-Coachist besser! Aber wir erleben auch: Support und Coaching können nicht alle Manager, viele brauchen hier selbst Unterstützung. Zudem versinken sie häufig in ihrem Büro in Administration und haben auf der Fläche vor allem die operative Wirksamkeit im Blick. Und das immer mit dem Schwerpunkt: mehr Effizienz, weniger Kosten.
Ich habe neulich einen völlig anderen Ansatz gesehen, der fiel mir schon optisch auf. Ein erfolgreiches Self-Service-Konzept will einen neuen Markt erobern und ist einfach mal mit gefühlt mindestens 2,5 mal soviel Mitarbeitern gestartet wie gewohnt. Da war es auch vier Wochen nach der Eröffnung hinter der Theke noch richtig bevölkert: Neue wurden immer wieder geduldig eingewiesen, bekamen Erklärungen und Unterstützung, während Kollegen – teilweise gemeinsam mit ihnen – verkauften. Und an der Tür stand der Storemanager als Ansprechpartner undsympathischer Dirigent für Gäste und Mitarbeiter. Und dieses Konzept ist weltweit ein besonders umsatzstarkes und profitables.
Julia Thombansen: Ja, und ich verspreche, das geht auch woanders. Auch wenn Personalkosten anfangs über betriebswirtschaftlichen Zielgrößen liegen: Mittelfristig zahlt sich das aus, weil später weniger neue Mitarbeiter zu rekrutieren und einzuarbeiten sind. Weil die Guten gerne bleiben!
Ein anderer Weg sind Führungstandems - wenn Führungskräfte ein Team aus Prozess-Manager und Entwicklungs-Coach bilden, in dem beide operativ für das Ergebnis verantwortlich sind und sich in ihren Fähigkeiten und Aufgaben ergänzen.
Denn es braucht ja sowieso mehrere, wenn immer einer in der Schicht präsent sein soll. Die beiden stimmen operative und Mitarbeiterentwicklungsziele miteinander ab, gestalten die individuelle Umsetzung für ihr Thema und gleichen ihre Ergebnisse permanent ab. Das ist echtes"Unterstützendes Führen", denn beide sorgen zusammen dafür, dass die Mitarbeiter die Aufgaben schaffen, persönlich wachsen und erfolgreich sind.
Christine Possler: Organisatorisch sieht das für beide Wege anders aus als gehabt. Jeder kann für sich ausprobieren, was davon bei ihm überhaupt und auf welche Art und Weise funktioniert. Nicht der große Wurf bringt’s, sondern diekleinen Schritte auf neuen Wegen- immer mit dem Anspruch.
Menschen im Fokus. Mitarbeiter und Gäste.
Lasst es uns anpacken!